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Was uns eint, sind unsere Unterschiede.

Gleich vorweg: Das Konzert gestern Abend war für mich eines der besten Onkelz-Konzerte seit der Reunion. Aus mehreren Gründen, die hauptsächlich mit mir und meiner Historie zu tun haben. Aber bevor ich schreibe warum, möchte ich euch ein paar Leute vorstellen. Sie sind so unterschiedlich wie die schönen Kontinente dieser Erde. Diese Menschen passen eigentlich nicht zusammen und sind doch beinah gleich. Und mit ihnen habe ich den Off-Tag am Mittwoch verbracht, denn genau diese Leute sind alle extrem engagierte, ehrenamtliche Mitglieder des BOSC.

Mike. Baujahr 1968, liebevoll „Thorhammer“ genannt. Ein Kerl wie ein Baum, an die 2 Meter groß, oder, passender, ein Wikinger aus einer dieser verrückten Serien. Vielleicht „Vikings“ oder „The last Kingdom“. Tätowiert von der Stirn bis zu den Fußsohlen, gepierct und ein Gesicht wie aus einem großen Stein gemeißelt. Überall nordische Symbole, Runen und der ganze mystisch-keltische Kram. Dann lernt man ihn kennen und schließt ihn sofort ins Herz, denn seines scheint unendlich groß zu sein. Ich weiß nicht, ob ich in den letzten Jahren einen höflicheren, großzügigeren Menschen getroffen habe als Mike. Keine Floskel. Kein Kokettieren mit dem Klischee „harte Schale- weicher Kern“, sondern ein wirklich feiner Kerl. Und Mike ist mit seinem Wohnmobil, das durch großformatige Onkelz-Schriftzüge sofort ins Auge fällt, fast die ganze Tour dabei und hilft jeden Tag, jede Nacht und bei jedem Wetter am BOSC-Bus, baut auf, baut ab, packt ein, packt aus und sorgt für gute Laune. Er ist auf einem Foto zu sehen. Ihr werdet ihn erkennen ;-)

Genau wie Mike, ist die Bus-Crew einfach ein unglaublich geiler Haufen Mensch. Sie fahren allesamt komplett mit. Und jeder schwitzt hier für jeden. Pascal „Pacco“ aus dem Pott, ist auch so ein Original. Der Gute macht hauptberuflich einen Job, der ihn wortwörtlich direkt in das Zuhause von Jugendlichen mit schwieriger Vergangenheit führt und hilft, wo er kann. Die gute Handwerkerseele und so viel mehr. Spät abends haben wir alle zusammen eine Runde „Stadt, Land, Vollpfosten“ gespielt, bevor wir wieder nach Sonnenuntergang gemeinsam alles aufgebaut haben, und was soll ich schreiben? Ich habe schon lange nicht mehr so herzlich gelacht wie gestern Abend. Und damit gehen wir nahtlos in den Showteil über.

Der Konzerttag selbst beginnt wieder heiß, aber nicht mehr so unerträglich schwül. Und als die Onkelz um 20.30 Uhr mit 28 die Bühne betreten, steige ich in meine ganz persönliche Zeitmaschine und in mein Erinnerungskarussell. Zuerst geht es zurück ins Jahr 2000, als „28“, „Guten Tag“ und „Finde die Wahrheit“ die Tour zum „Bösen Märchen“ eröffneten (in etwas anderer Reihenfolge …) Ich liebe diese Kombination, und die Band sicher auch. Was sich hier in den ersten fünf Minuten der Show entlädt, ist eine so besondere Energie, die man nur schwer beschreiben kann. Man muss sie spüren. Wie sie die Luft elektrisiert. Und die Massen. Wie viele Münder zu einem werden und wo viele Körper zu einer tanzenden Masse verschmelzen. 2000 war übrigens auch das Jahr, in dem die Onkelz zum ersten Mal auf der Waldbühne spielten – aber das nur am Rande. Die Kreise schließen sich.

Die Stimmung an diesem Donnerstag war jedenfalls von Anfang an auf dem Siedepunkt und synchron mit den Temperaturen in der altehrwürdigen Jahrhunderthalle. Ich liebe es, die Leute zu beobachten. Wie ihr singt, tanzt; wie ihr feiert. Wie „Zu nah an der Wahrheit“ von euch mit einer Inbrunst mitgesungen wird, für die viele andere Bands vermutlich alles geben würden, um auch nur ein Quantum dieser kultig magischen Beziehung zu ihren Fans abzubekommen, die an diesem Abend über zweieinhalb Stunden konstant spürbar war. Immer und ohne Pause – aber mit ein paar Spitzen, die ich gerne näher beleuchten möchte. Vor allem Lieder, die wie keine anderen meine eigene Jugend geprägt haben. Eine Jugend, die in den Neunzigern stattfand und die mich mit dieser Setlist (die meiner Meinung nach zu den besten gehört, die die Onkelz je gespielt haben) direkt in diese wilden Jahre zurückkatapultiert.

„Scheißegal“ ist so eine Nummer. 1992 erschienen, aber so richtig lieben gelernt habe ich das Ding erst mit „Live in Dortmund“ von ’97. Und wie gut der Song in diese Zeit passt, oder? Warum scheinen so viele Menschen verlernt zu haben, einander zuzuhören und nicht auszugrenzen? Die letzten Jahre haben – so fürchte ich – nicht gerade zu mehr Miteinander beigetragen und ich fühle jede einzelne Zeile dieses zeitlosen Liedes.

Dann erlebe ich fast meinen ersten Liebeskummer wieder, als „Bin ich nur glücklich wenn es schmerz“ gespielt wird. Und wie wunderschön die Band in diesem epischen Licht badet, das Jerry Appelt und sein Team wieder zu zaubern wissen. Gonzo spielt so gefühlvoll, Kevin singt mit allen Emotionen, Stephan lässt es mit dieser melancholischen Schönheit, die dem Track innewohnt, „Tränen regnen“ und Pe gibt den Herzschlag mit der Bassdrum. Ich feier es, wie die Tausenden von Fans mitsingen, sich in den Armen liegen oder die Augen schließen. Und es war erfrischend zu sehen, dass nicht jeder sein Smartphone in die Höhe recken musste, sondern diesen (und viele andere) Momente verinnerlichen wollte, ohne sich selbst zu filmen. Toll!

Währenddessen drehte sich das Erinnerungskarussell weiter und kam bei „Ohne mich“ an. Als „Viva los Tioz“ veröffentlicht wurde (im September 1998), war ich kurz vor meinem 16. Geburtstag, und „Ohne mich“ lehrte mich, dass sich am besten in der Mitte lebt. Weit weg von den Extremen, die beide Scheiße sind und den eigenen Horizont auf ein sehr begrenztes Maß einengen. Bis heute hat mich wohl kein Lied mehr in meinen Überzeugungen bestärkt als dieses. Die Band spielt mit einer Freude, dass heute bei mir der Knoten platzt und ich beschließe, ab „C’est la vie“ mit meinen Freunden vom BOSC zu feiern, als gäbe es kein Morgen.

Kevins Stimme ist trotz der bereits furiosen Show am Dienstag und der erneut tropischen Temperaturen großartig. Sogar die hohen Töne, die einigen Songs ihren Wiedererkennungswert geben, sitzen und ich finde – ganz ehrlich – wir erleben hier einen der besten Russells seit der Reunion. Hut ab! Gonzo und Stephan grinsen und schwitzen um die Wette und man fragt sich fast (spätestens nachdem Stephan es gesagt hat), wie man so eine konzertfreie Zeit ohne Onkelz überstehen kann.

Das Karussell dreht sich weiter und lässt mich bei „Angst ist nur ein Gefühl“ kurz aussteigen. Ich möchte schreiben, wie wichtig dieser Song ist. Vor allem die Grundaussage. Stephans Worte vom Dienstag klingen nach: „Hinterfragt eure Ängste! Stellt euch euren Ängsten!“ Und ja, auch wenn es schwer ist – gerade wenn man mit Panikattacken oder anderen Angststörungen zu kämpfen hat – ist es umso wichtiger, genau das zu tun. Ich schreibe aus Erfahrung.

Über „H“ braucht man fast kein Wort mehr zu verlieren. Seit so vielen Jahren wünsche ich mir dieses Lied, und vielleicht ist jetzt der richtige Zeitpunkt dafür. Ich werde den Moment am Dienstag nicht vergessen, als niemand im Publikum wusste, was kommt, und dann Gonzo und Kevin fast allein auf der Bühne standen und die ersten Töne auf der Gitarre gespielt wurden. Und auch heute gab es wieder „Kevin!“-Sprechchöre, und das schon vor dem Lied. Dieser Song, der 1995 auf dem Album „Hier sind die Onkelz“ erschien, hat auch meine Biografie beeinflusst. Ich habe mir seinetwegen geschworen, nie harte Drogen anzufassen. Bei „Nichts ist für die Ewigkeit“ tanzten und sprangen wir mit einer Gruppe von Fremden und Freunden, während die Band wieder um die Wette grinste. Genau wie Vincent Röhr. Seit 2019 „unser“ Keyboarder und mit einer Aura von Freundlichkeit und Bescheidenheit gesegnet, die man einfach mögen muss. Danke, Vinnie. Für diese besonders guten Vibes.

Im Zugabenteil werde ich noch einmal zurück ins Jahr 1998 gebeamt. Und ich erinnere mich an eine Ansage von Stephan von der Loreley 2003 – als „Das Geheimnis meiner Kraft“ während der Open Air seinerzeit zum letzten Mal auf der Setlist stand. „Hass ist scheiße, weil er zerstört. Aber Wut ist geil – sie schafft Kreativität.“ Und ich war mit 16 weiß Gott sehr, sehr wütend. Und jener Gott weiß auch, wie oft ich diesen Song gehört und damit meine angestaute Wut kanalisiert habe.

Die Atmosphäre heute war sensationell. Der Funke ist übergesprungen und ich habe wirklich mein schönstes Onkelz-Konzert seit der Reunion erlebt. Aus so vielen Gründen. Mit so vielen verschiedenen Menschen habe ich in den letzten drei Tagen gesprochen, getanzt, sie umarmt, dass dabei Erinnerungen entstanden sind, die mich noch durch viele schlechte Tage tragen werden. Es ist ein besonderer Zauber, der diese Verbindung zwischen Band und euch beflügelt. Und ich glaube und hoffe, dass ihr, die ihr heute hier wart, ihn auch gespürt habt.

Hermann Hesse soll einmal geschrieben haben, dass die Musik eine Urkraft sei, der ein tiefer Heilzauber innewohne. Wenn das so ist, und daran habe ich keinen Zweifel, dann sollte es demnächst Onkelz-Konzerte auf Rezept geben. Ich verneige mich vor euch. Es war mir eine Ehre und ich freue mich auf die drei Shows auf der Loreley (ein weiterer Kreis, der sich für mich schließt) und auf Oberhausen (stellvertretend für den Pott), wenn ihr wieder von mir lest.

PS: Laut meinem Kumpel Marco habt ihr heute 02:27 Minuten das terpentische „Ohoho“ durch die Halle geprescht. Gut, hätten wir das auch geklärt ;-)

Und: Stephan hatte mich gerade noch einmal darauf hingewiesen, dass eben jenes „Ohoho“ schon während des Songs und dann durchgehend gesungen wurde, was dann wohl auch Kevin etwas aus dem Konzept gebracht hatte. Gemein, wie die Onkelz nun mal sind, wurde das Oratorium in die noch laufenden Fangesänge hinein gestartet und somit jeglicher Rekordversuch unterbunden. Genau in diesem Moment habe ich mir kurz das Gesicht angefeuchtet …

O-Ton Stephan: „Ich glaube, die Fans hätten gestern auch ne Stunde gesungen“. Damit ist doch alles gesagt, oder?

Gehabt euch wohl!

// Dennis Diel

Fotos: Christian Thiele Fotografie, Tobias Stark Photography

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