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Es gibt sie, diese Abende an deren Beginn man bereits fühlte, dass sie besonders werden. Wir alle kennen die lauen Sommernächte unserer Jugend, an denen wir uns unsterblich fühlten. Aus denen wir die Kraft für den nächsten Morgen zogen, von dem wir wiederum taten, als würde er nie kommen. 25 Grad, ein warmer, sommerlicher Wind umweht die Rinne, als um kurz vor 22 Uhr der letzte Ton von „Erinnerungen“ im weiten Rund verklingt. Es ist vollbracht: Die zweite und letzte Show in Dresden ist Geschichte. Eine Geschichte, die hier beginnt.
Dresden, du bist viel schöner als dein Ruf! Nicht nur kulturell, auch menschlich. Davon konnten wir uns am Donnerstag überzeugen, als wir aus Berlin in der sächsischen Landeshauptstadt ankamen. Wir nutzen den Off-Day um Dresden zu erkunden, besuchten die Innenstadt und einige schöne Ecken an der Elbe. Wir trafen auf zufriedene, ausgeglichen und freundlich wirkende Menschen, die uns allerorten Willkommen hießen. Währenddessen liefen in der Rinne die Aufbauarbeiten auf Hochtouren. Bereits seit einigen Tagen wurde hier das gesamte Besteck aufgefahren, was diese Tour produktionsseitig zu bieten hat. Allein die Bühne, die wir in Dresden in ihrer vollen Dimension erleben durften, verschlingt mehr als 70 Tonnen Stahl. Sie wird in Summe von über 200 Helferinnen und Helfern aufgebaut, deren Leistung, Engagement und Unterstützung wir mit Worten nicht ausreichend würdigen können. Mit je 35.000 Fans an beiden Abenden ist die Rinne in Dresden zudem die größte Station dieser Open Air Tour 2024 und mit über 30 Grad auch die bislang heißeste.
Heiß war es auch, als sich am frühen Freitagvormittag die Stadt in ein Meer aus Onkelzfans verwandelte. Wohin man auch schaute, Fans soweit das Auge reichte – Dresden war schnell fest in Onkelz-Hand. Wie auf einer Pilgerreise, füllten sich so die Zufahrtsstraßen an der Dresdner Messe von Stunde zu Stunde. Einige bekannte Gesichter der ersten Reihe, die uns die gesamte Tour begleiten, verbrachten seit dem frühen Morgen am Einlass, um am Ende auch sicher einen Platz direkt vor der Bühne zu ergattern. Eine Mission, die unter der erbarmungslosen Dresdner Sonne unseren vollen Respekt verdient.
So starteten wir auch etwas verhalten in den ersten Konzerttag, als 15 Minuten vor Showbeginn erst rund die Hälfte der 35.000 erwarteten Fans ihren Platz auf dem Gelände gefunden hatten. Man merkte, dass Dresden sich ganz offensichtlich die Kräfte für die eigentliche Show aufsparen wollte. Das war bei Temperaturen jenseits des Siedepunktes auch mehr als nachvollziehbar. Alle Zurückhaltung verflog allerdings schnell, als mit „28“ und „Guten Tag“ die Rinne ihren ersten Onkelz-Moment erlebte. Ein Moment, der sich direkt in die Geschichtsbücher der Band verewigte. „Gefällt mir hier in Dresden“, begrüßte Stephan diesen staubenden Haufen guter Laune vor der Bühne. Und Dresden lies an beiden Tagen keinen Zweifel offen, dass hier gefeiert und gesungen werden kann. Die Band lies sich von Beginn an gern von der ausgelassenen Stimmung mitreißen und so entstand ohne Anlauf eine Symbiose, die über beide Tage konstant anhielt. Kevin, der schon die ganze Tour über eine stimmlich starke Leistung abliefert, interagierte sofort mit den Dresdnern und auch Stephan und Gonzo, waren von Beginn an mit viel Spaß in diesen Konzerten. Zusammen mit Pe, der mit der Präzision eines Schweizer Uhrwerks die drei vor sich antreibt, spielte sich die Band schnell in einen Rausch in der Rinne.
Die Sonne begann gerade über Dresden unterzugehen, als „Zu nah an der Wahrheit“ erklang. Ich sehe klatschende Hände bis zum Horizont und Menschen, die sich singend in den Armen liegen. Hier sind alle gleich – alle gleich besessen vom Virus dieser Musik. Einige um mich herum schließen die Augen, umarmen den Moment und lassen ihn nicht mehr los. Egal wie oft dieses Lied gespielt wird, die Wirkung ist immer wieder magisch und nie gleich.
Kaum waren die aufgewühlten Gefühle wieder im inneren Schuhkarton verpackt, da beschleunigte mit „So sind wir“ ein echter Klassiker den Herzschlag um 60 bpm. Dresden sang so laut, dass ich den Refrain selbst aus mehreren hundert Metern noch problemlos hören konnte. Das Stück ist live einfach immer eine sichere Bank – ein nicht alternder Klassiker im Repertoire. Immer wieder schallte es „Oh, wie ist das schön“, auf meinem Weg um das Gelände. Ich sah die örtliche Feuerwehr, die mit Camping-Stühlen ausgelassen und singend das Konzert auf dem Dach ihrer Fahrzeuge verfolgte. Ich sah die Polizei- und Rettungskräfte, die textsicherer wirkten, als so mancher Fan im ersten Wellenbrecher. Die Band verbindet, egal wer du bist, warst oder sein wirst.
Zur besten Prime-Time folgte sodann ein weiterer Klassiker, der mittlerweile kaum noch aus der Setlist gedacht werden kann: „Stunde des Siegers“. Dresden, geprägt und gestählt durch eine mittlerweile sieben Dekaden andauernden, fußballerischen Historie zündete instantan den nächsten Gang und verwandelte die Rinne in einen Kessel aus Pogo, Händen und singenden Kehlen. „Zeig ihnen, wer du bist“ – und Dresden zeigte, wer es ist. Die ersten Bengalos setzen optische Akzente und es sollten nicht die letzten bleiben. Zu einer echten Perle der Setlist entwickelt sich Abend für Abend: „Gestern war heute noch morgen“. Vinny am Keyboard trägt das Stück zu einer groovigen Nummer, die live für mich deutlich eingängiger klingt, als die Studioversion auf der Platte. Nicht zu vergessen, dass die Nummer mittlerweile mehr als 30 Jahre alt ist, aber mitnichten so klingt. Älter als so manche Fans der ersten Reihe, die mittlerweile teils in der dritten Generation die Shows der Onkelz besuchen. Es gibt sicher nicht viele Bands, die das von sich behaupten können.
Mit „Ohne mich“ folgte ein Lied, das sich in seiner Wirkung nicht abnutzt, egal wie oft es gespielt wird. Die Aussage ist klar, der Text spricht für sich. Dresden, ja ganz Sachsen, von den Medien immer wieder gern kollektiv als intellektuelles Hinterland diskreditiert, feierte jede Strophe dieses Liedes und feierte damit auch die Ode an Freiheit und Selbstbestimmung. Eine Kampfansage an jeden Extremismus, sei er politisch oder religiös. Für mich inhaltlich immer noch einer der wichtigsten Songs der Open Air Tour 2024.
Kurz nach der Hälfte des Sets standen mit „Bin ich nur glücklich, wenn es schmerzt“ und „H“ noch zwei emotionale Schwergewichte und unbestrittene Highlights auf dem Programm. Wer hier keine Gänsehaut bekommt, sollte dringend seine Vitalwerte überprüfen lassen. Es könnte alles so perfekt sein, wären da nicht diese unsäglichen Handys in der Luft. Mittlerweile als Ersatz für das analoge Feuerzeug genutzt, töten diese Dinger einfach zuverlässig jeden Anflug von Atmosphäre. Und so frage ich mich Abend für Abend aufs Neue, wer diese Menschen sind, die diese Stücke und Momente lieber auf ihrer Speicherkarte verewigen, als in ihrem Herzen. Das letzte Hemd hat bekanntlich keine Taschen – was zählt, sind nur die Erinnerungen im Kopf.
Mit „Nichts ist für die Ewigkeit“ und „Terpentin“ kulminierte Dresden dann endgültig in einer ekstatisch feiernden Masse aus Händen und Chören, die jede PA übertönen konnte. Bei über 30 Bengalos zwischen „Nichts ist für die Ewigkeit“ und „Mexico“, habe ich aufgehört zu zählen. In der Luft lag der Geruch von Schweiß, Staub und Schwefel – alle um mich herum haben gesungen, alle haben getanzt und mit „Erinnerungen“ beschlossen wir gemeinsam diese beiden Abende in der Dresdner Rinne. Es waren Abende für die Geschichtsbücher. Abende, die uns psychisch und physisch alles abverlangten. Abende voller Erinnerungen, Emotionen und dem Gefühl, etwas Besonderes erlebt zu haben. So wie damals, in den lauen Sommernächten unserer Jugend.
„Danke, Dresden! Ihr wart großartig, wir lieben euch“, ruft Stephan noch in die Nacht, ehe sich die feiernde Menge den Weg nach draußen bahnt und innerhalb weniger Stunden die Dresdner Rinne wieder in eine große, leere Wiese verwandelt.
Bericht // Marco Matthes
Fotos // Christian Thiele