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Was hatte die Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Schriften am „Netten Mann“ auszusetzen und warum wurde die Platte verboten?

Die Bundesprüfstelle indiziert im September ’86 das Debüt Album „Der nette Mann“ mit der Begründung der Titelsong würde zum Mord an kleinen Kindern aufrufen, der Song „Frankreich ’84“ beinhalte rassistische Tendenzen, der Song „Mädchen“ sei pornographisch, der Song „Dr. Marten’s Beat“ sei gewaltverherrlichend und der Song „Böhse Onkelz“ würde unreflektiert den Nationalsozialismus verherrlichen.

Niemand in der Band hatte genug Fantasie, um diese Interpretation nachvollziehen zu können. Stephan benutzte häufig die Ich-Form, um seinen Texten mehr Ausdruck verleihen. Ein sprachliches Mittel, das der Bundesprüfstelle offenbar unbekannt war. Gut, heute betrachtet ist „Dr. Marten`s Beat“ sicherlich nicht das, was die Band von sich hören möchte – und ja, der Text ist brutal. Dieser Song, und vielleicht die Hooligan-affinen Tracks des Albums, mögen tatsächlich gewaltverherrlichend sein. Dennoch: In ihrer Abschrift weisen viele Songs viele Fehler und Entstellungen auf – manche Passagen sind von der Bundesprüfstelle sogar frei erfunden worden.

Das Verbot des Albums sorgt dafür, dass es bundesweit „Kultstatus“ erlangt. Die spätere Behauptung, die Böhsen Onkelz hätten diese Indizierung beabsichtigt, sie sei Teil einer gewaltig angelegten Marketingkampagne gewesen, ist unhaltbar und unzutreffend. Das Verbot der Platte kommt zwar überraschend, wird aber von der Band schulterzuckend hingenommen. Zum einen ist Stephan Briefe per Einschreiben schon gewohnt gewesen, und zum anderen konnte er nur müde darüber lachen, dass die Bundesprüfstelle die erste Platte „Der nette Mann“ hinsichtlich einer Indizierung prüfen wollte. Irgendwie war es doch scheißegal. Sollten sie die Platte doch indizieren! Die LP war seit mehreren Jahren auf dem Markt und hatte sich wahrscheinlich tausendfach durchs Überspielen reproduziert.

Lautes Gelächter bricht aus, als die Band die Bestätigung und Begründung der Indizierung liest. Nicht unerwähnt soll bleiben, dass der Song „Deutschland“, indem man durchaus auch einen nationalistischen Kontext interpretieren konnte, ohne besondere Vorkommnisse durch die Prüfung kommt. Selbstverständlich ruft die Indizierung der Platte die Journaille auf den Plan. Der Spiegel, der sich bereits in den vergangenen Jahren mit seiner Berichterstattung über Punk und Oi nicht mit Ruhm bekleckert hatte, titelt reißerisch „Häßlich, gewalttätig und brutal“. Dabei zitiert der Spiegel auch die Onkelz, ohne mit ihnen gesprochen zu haben. Dass sich die Onkelz zu diesem Zeitpunkt bereits uneinholbar von der Skinhead-Szene distanziert hatten, war der Presse keine einzige Meldung wert.

Das Thema Zensur ist allerdings eins, das auch heute noch aktuell ist. Im Zeitalter des Internet scheint eine bürokratisch, aktenordnende Institution wie die BPJM ohnehin total anachronistisch.

Die Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien ist auch heute noch eine Behörde mit Sitz in Bonn, die durch Prüfung darüber entscheidet, ob Medien in die Liste jugendgefährdender Medien („Indizierung“) aufgenommen werden sollen. Dieses Verfahren soll den medialen Jugendschutz gewährleisten. Ein Medium, das auf dem Index steht, darf nicht mehr öffentlich verkauft werden. Sind einzelne Lieder von der Indizierung betroffen, dann dürfen auch diese weder verkauft noch live gespielt werden. In den 80ern und 90ern wurde alles indiziert, was nicht bei „drei auf den Bäumen war“. Wer zu dieser Zeit Gast in Videotheken war, konnte ein Lied davon singen. Hollywood-Filme, die im Ausland als Kunst angesehen sind und deren Requisiten teilweise in Museen ausgestellt wurden („Texas Chainsaw Massacre“, „The Evil Dead“, „Dawn of the Dead“) unterlagen in Deutschland der immer grotesker und strenger werdenden Zensur. Die Filme kamen – wenn überhaupt – nur stark gekürzt in die Lichtspielhäuser, auf Video folgte dann in den meisten Fällen eine Indizierung. Das damit einhergehende Werbeverbot (Verleih nur an 18jährige in von außen nicht einsehbaren Räumen) bedeutete für viele Filmverleiher die totale Unattraktivität des deutschen Marktes. Mochte ein besorgter Jugendschützer das Medium noch weniger, reichte er es bei einem Amtsgericht zur Sichtung ein, mit der Bitte, das verrohende, gewaltverherrlichende Stück Film/Musik/Comic/Literatur vollständig aus dem Verkehr zu ziehen. Dann folgte der richterliche Hammer und die bundesweite Beschlagnahme. Dieses Schicksal ereilte nicht nur den oben genannten Filmen, sondern auch den Onkelz mit ihrem Debut-Album. Während die Beschlagnahme (vollständiges Verbot, das Medium an Dritte weiterzugeben, zu verleihen, zu verkaufen oder sonst zugänglich zu machen) des „netten Mannes“ mittlerweile verjährt ist, ist die Indizierung noch immer rechtsgültig.

Hier ladet ihr euch den Indizierungsbeschluss herunter:

bps-indizierung