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Die 91er Veröffentlichung, die erste LP bei Bellaphon, die den Titel „Wir ham‘ noch lange nicht genug“ trägt, steht ganz unter dem Zeichen der Verarbeitung persönlicher Erlebnisse. Bevor es am 26. August 91 über die Ladentheken des Landes wandert, spielen die Onkelz eine Handvoll Gigs. Eine dieser Nächte, die Nacht in Berlin vor, während und nach des ersten Onkelz Gigs in dieser bedeutungsschwangeren Stadt nach 1985, wird später zum Paradebeispiel für onkelztypische Fan-Krawalle werden. Aber der Reihe nach.

Das Jahr beginnt mit der Abschlussverhandlung gegen den Mörder Trimmis am 23. Januar. Eine Katastrophe und eine Ohrfeige für die deutsche Justiz. Auf alle Ungereimtheiten und Unzulänglichkeiten während der Verhandlung einzugehen, würde den Rahmen sprengen und ist hier Fehl am Platze. Dennoch war wichtig zu erwähnen, dass die Notwehr-Geschichte, die man dem Richter auftischte, abgekauft wurde. Man könne sich durchaus vorstellen, dass Trimborn gewalttätig und aggressiv unterwegs gewesen ist; dass er den Täter tatsächlich auf der Toilette mit einem Bierseidel bedroht habe. Und außerdem, so der Richter, habe Trimborn ja mannigfaltige Kontakte in die Rocker-Szene Frankfurts gepflegt, und überhaupt: die Onkelz würden ja als gewaltbereit eingestuft werden, von daher… noch Fragen? Das Fazit: Freispruch. Ohnmacht, Unverständnis, Kopfschütteln.

Kurz vor dem Abschlussprozess lädt der frisch eröffnete Virgin Mega Store an der Konstablerwache Russell zum Live-Tattooing ein. Kevin sitzt dort im Schaufenster, leichenblass. Der Frankfurter Star-Tätowierer sticht das von ihm vor ein paar Monaten entworfene Snap! Logo auf viele kalkweiße Oberarme. Snap! waren damals die erste große Nummer („The Power“) des noch jungen hessischen Dance-Labels Logic Records. Mit Markus „Marc Spoon“ Löffel als A&R und Matthias Martinsohn als Geschäftsführer, konnte Logic eine Zeit lang mit Snap! und wenig später mit Dr. Alban gewaltige nationale und internationale Erfolge feiern.

Snap Logo

Im Sommer 1991 eröffnet Russell, zu diesem Zeitpunkt schon schwer heroin- und alkoholabhängig, zusammen mit Auge sein eigenes Tattoo-Studio „Golden Sword Tattoos“ auf der Albusstraße. Nebenan jobbt noch Pe kurzzeitig bei Boy London und Stephan gibt sich große Mühe, die drohende Insolvenz der Cadillac Ranch aufzuhalten, was ihm nicht gelingen will.

Zurück zu den wenigen Gigs des Jahres 1991. Anfang Januar spielt die Band zwei harmlose Gigs im Offenbacher F 63. Seltenes Bildmaterial aus unseren Archiven gefällig? Gerne:

Signum des Verrats, Ach, sie suchen Streit und Guten Tag – live in Offenbach, Januar 1991:

 

Zurück nach Berlin. Während Gonzo und Stephan im Hintergrund an einer ganzen Reihe neuer Lieder werkeln, die im Sommer auf der neuen LP der Onkelz zu hören sein sollen, schaltet die Presse auf stur. Erst recht als sie erfährt, dass die Band vorhat, in Berlin zu spielen. Das können die ja wohl nicht ernst meinen.

Es ist die Nacht zum 25. Juli in Berlin-Neukölln, Location: „Neue Welt“. Ernie Loos – der, der das Konzert vor Ort organisiert hatte, musste sich schwere Verunglimpfungen seiner Person gefallen lassen. So ging es jedem, der zu dieser schweren Zeit einen Schritt auf die Onkelz zuging. Derjenige riskierte alles und verlor in den meisten Fällen seine Reputation. Es gab Künstler wie „Bad Religion“, die daraufhin jede weitere Zusammenarbeit mit Loos aufkündigten. Man wolle auf keinen Fall einen Veranstalter ins Boot holen, der Konzerte für Nazi-Bands organisierte. Das trifft Stephan besonders. Der war großer Fan von Bad Religion und den intelligenten Texten Graffins.

In Berlin dreht derweil die autonome Szene völlig frei. 100 Demonstranten machen sich schon Nachmittags auf den Weg zur „Neuen Welt“, da ist die Band noch gar nicht vor Ort. Dann flattert noch eine einstweilige Verfügung der Stadt ins Büro, die den Onkelz von einer Minute zur nächsten den Auftritt untersagen will. Das ist Loos zu viel. Nach ein-zwei Telefonaten setzt er einen riskanten Plan um: Das Konzert soll nach dem Erhalt der einstweiligen Verfügung erst um 00:01 Uhr stattfinden. Am nächsten Tag – da hatte die Verfügung keine Verfügungsgewalt mehr und die Mühlen der Bürokratie mahlten in Deutschland zu langsam, um eine Verfügung für den nächsten Tag erwirken zu können. Hässlichste Beamtenmentalität, die man da am Schreibtisch durchsetzen wollte – und der man da einen buchstäblichen Strich durch die Rechnung macht.

Als sich der Abend nähert und die gleißende, heiße Sonne langsam im Begriff ist, zwischen Betonwänden, Häuserschluchten und zig-meter-hohen Wolkenkratzern zu verschwinden, eskaliert die Situation. 400 Bullen, beritten und in voller Montur, sichern den Veranstaltungsort. Dann gibt es Angriffe von den autonomen Chaoten, von ausländischen Kids, die sich bis aufs Blut provoziert fühlen und von einigen Mitläufern, die offenbar gar nicht wissen was da vor sich geht, aber dennoch Bock auf ein bisschen Randale haben. Alle gegen alle. Jeder gegen jeden. 14-15 jährige Onkelzfans, die stromlinienförmig in die Halle drängen, manche davon panisch, viele von der Straßenschlacht draußen gekennzeichnet. Blut aus Nasenlöchern und Mündern, offene Ellbogen und Knie. Weinende Mädels, betrunkene Typen. Die Onkelz-Fans werden dort reihenweise umgehauen. Von Polizisten und Gegendemonstranten gleichermaßen. In der Halle gibt es Durchsagen, dass das Konzert erst um Mitternacht beginnen kann – noch mehr Grund, um sich K.O. zu saufen und zwischendurch vor die Hallentür zu gehen, um noch ein bisschen mitzumischen. Unter den damaligen Gegendemonstranten ist auch ein gewisser Tamer Yigit. Damals noch absoluter Onkelz-Hasser türkischer Herkunft, zehn Jahre später leuchtendes Beispiel für gelungene Integration. Nicht nur von sich selbst – auch für Menschen, die der Band einst ablehnend gegenüber standen, und heute mit Begeisterung deren Musik hören. Auge läuft durch die Gegend und filmt die Szenerie. Das alles nahm Ausmaße eines Mini-Bürgerkriegs an. Wasserwerfer, brennende Mülltonnen, vermummte Pyromanen, in Flammen stehende Autos. Die Band spielt zwar ihren Stiefel runter – dennoch ist klar, dass so etwas nie wieder passieren darf. Sollte es danach und nach den verheerenden Presseberichten überhaupt noch einmal die Chance für die Band geben, Konzerte zu spielen.