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Während Kevins Drogeneskaparden 1993 einen neuen Höhepunkt erreichen, gibt es für die Band keine Atempause. Anstatt sich nach dem Charterfolg der „Heilige Lieder“ zurückzulehnen, starten die Böhsen Onkelz voll durch und veröffentlichten 1993 gleich zwei Arbeiten. Die Konzeptalben „Schwarz“ und „Weiß“ kommen im Herbst des Jahres auf den Markt und erfüllen mit ihren Veröffentlichungen den Bellaphonvertrag („drei Studioalben plus einer Live-Option bei 4 Jahren Laufzeit“) über die Maßen.

Innerhalb der Band hatte sich eine leichte Unzufriedenheit mit dem Frankfurter Label breitgemacht und nach Abgabe der Bänder will man sich auf dem Musikmarkt erneut nach einem neuen Label umschauen. Die Böhsen Onkelz wollen sich weiter entwickeln, was auch auf den beiden Alben „Schwarz“ und „Weiß“ deutlich wird, die allgemein hin als das musikalisch reifste und vielseitigste Werk der Band gelten. Die Texte sind sicherlich anspruchsvoller als alles, was sie bis dahin geschrieben hatten und als Doppelveröffentlichung, bringen sie viele der früheren Kritiker zum Schweigen. Insbesondere das Lied „Deutschland im Herbst“, in dem die Band Stellung zu den ausländerfeindlichen Übergriffen des vergangenen Jahres bezieht, wird als ein großer Schritt in die richtige Richtung gedeutet und gilt bis heute unter Menschen mit Sachverstand als einer der wichtigsten Anti-Nazi Songs einer deutschen Band. 

Ich sehe blinden Hass, blinde Wut – feige Morde, Kinderblut. Ich sehe braune Scheiße töten – ich sehe Dich!“ „Ich höre weiße Geräusche, rassenreine Lieder. Ich höre hirnlose Parolen, von Idioten und Verlierern. Ich hör die Lügen der Regierung, die Lüge eures Lebens. Ich hör die Lügen über uns – ich höre Dich: Deutschland im Herbst.“ Die Kritiker mussten sich die Frage gefallen lassen: Geht es noch eindeutiger? Stephan schreibt „Deutschland im Herbst“ nicht, weil er sich dazu von außen verpflichtet fühlt, oder weil er auf ein pflegeleichteres Image setzen will, sondern weil er es schreiben will. Da gibt es doch im Nachhinein Menschen, die machen aus „Ich sehe braune Scheiße töten…“ „Ich sehe Braune, Scheiße töten…“ und setzen damit dem journalistischen Irrsinn, der mit dem erfundenen R in Noreia begonnen hatte, die Krone auf. Das war nicht mehr lustig. Das war kompletter Rufmord.

„Schwarz“ und „Weiß“ werden besonders. Weidner und Röhr liefern ab. Tag und Nacht, hell und dunkel. Die Dualität Weidners Persönlichkeit wird in beiden Alben mehr als deutlich. Aus Stephan und Gonzo sprudeln im Vorfeld die Songideen nur so heraus. Beide sind zu dieser Zeit zwar auf zwei unterschiedlichen, aber wichtigen persönlichen Wegen unterwegs, die sie menschlich haben reifen lassen. Stephan bereist die Welt weiter, ist u.a. mit Sven Väth in Indien, viel in Costa-Rica und überhaupt wie ausgewechselt. Drogenkonsum spielt auch 1993 noch eine große Rolle. Kevin richtet sich zugrunde. Die Aufnahmen zum Album, die wieder in Helmuth Rüssmanns Studio auf dem Land in der Nähe von Bonn stattfinden, werden durch permanente Unzulänglichkeiten des Sängers überschattet. Jede Vocal-Spur wird zur Herausforderung. „Der Himmel kann warten“ wird exemplarisch für Kevin geschrieben. Jeder, der in den Jahren 1991 bis 1993 mit Russell zu tun hat, wartet eigentlich auf dessen Todesnachricht. Kein Mensch, so scheint es, kann ihn noch vor dem freien Fall in die persönliche Hölle abhalten. Heroin und Alkohol haben ihn jetzt fest im Griff und deren Sogkraft zieht Russell ganz tief nach unten. Soweit runter, dass es immer klarer wird, dass er den Wiederaufstieg in ein „normales“ Leben nicht mehr ohne fremde Hilfe schaffen wird. Die Arbeiten an „Schwarz“ und „Weiß“ geraten zum Roulette-Spiel.

Stilistisch wird die komplette Bandbreite einer progressiv eingestellten Hardrock-Band geboten. Harte, treibende Klänge („Lieber stehend sterben“, „Erkennen Sie die Melodie“, „Fahrt zur Hölle“ usw.) wechseln sich ab mit ruhigeren Nummern („Für immer“, „Der Himmel kann warten“). Experimentellere Klänge („So geht`s Dir“, „Ich bin Du“, „Es“) und ein wunderschönes Instrumental („Baja“) sind genauso zu hören, und beschließen den akustischen Kreis der beiden Alben. Thematisch sind „Schwarz“ und „Weiß“ so breit gefächert wie kein Onkelz Album zuvor. Nach der bereits erwähnten Absage an Rechtsextremismus werden weiter politische Statements abgegeben, die deutlicher nicht sein konnten. „Schöne neue Welt“, „Entfache dieses Feuer“ und „Worte der Freiheit“ lassen den Fans keinen Zweifel daran, wo die Band steht. Besonders letzterer gibt den vielen Onkelz Fans im Osten der Republik zu denken. Deren Wut, so kurz nach der Wende wieder verarscht worden zu sein, war durchaus verständlich – die Adressaten ihres Hasses aber, die waren falsch. Nach unten zu treten war noch nie ein Ding der Onkelz. Das wollten sie ihren Fans, ganz egal wo sie herkamen, welchen Bildungsstand sie besaßen und welchen Beruf sie ausübten, mitteilen. Nach unten zu treten heißt immer auch, nach Schwächeren zu treten. „Wenn du etwas ändern willst – fang bei Dir an!“ Das war die Prämisse, anders funktioniert das Menschsein nicht. Eine Erkenntnis, die Weidner und die Band Ende der 80er hatten und von der sie hofften, sie mit ihren Fans irgendwann teilen zu dürfen. Es gibt nicht den einen richtigen Weg, genauso wenig wie die eine richtige Religion, oder die eine allgemein gültige Wahrheit. Die Wirklichkeit war damals schon beschissen und trostlos. Besonders im Herbst. „Schwarz“ und „Weiß“ sind wie eine Frischzellenkur für die Seele und den Gemütszustand tausender Menschen, die noch nicht wissen, wohin sie mit ihrer Wut sollen. Ein Denkanstoß in eine andere Richtung. Ganz weit weg von rechts, gar nicht so weit weg von links – aber dennoch mittig sitzend, auf den unbequemen Stühlen der Anklage deutscher Presse-Richter und Denunzianten. Da sitzen die Onkelz freiwillig, beobachten und es gefällt ihnen nicht, was sie sehen. „Ich sehe Bullen töten Schwarze – in L.A. Ich seh den Krieg in Jugoslawien, den Hass in unser`m Land…

Mit „Das Messer und die Wunde“ gibt es einen letzten „Gruß“ an den Mörder Trimmis. Ein letztes Mal wollen sie diesen Typen wissen lassen, wessen Zorn er vor über drei Jahren auf sich zog, als er Andreas Trimborn im Speak Easy erstach. Ihm zeigen, dass die Band nicht vergisst. Und ihm noch lange nicht verziehen hat.

„Lieber stehend sterben“ wird von vielen Onkelz-Kritikern missverstanden. Es ist kein Lied über`s „Rechts-sein“, natürlich nicht. Und die von vielen Hatern gern genommene „Landser-Heftchen-Romantik“ ist keine. Nicht, wenn man weiß, wovon der Song handelt. „Lieber stehend sterben“ ist ein Lied über das „Anti-sein“. Nicht dazuzugehören zu wollen. Auf Politik und das Establishment zu scheißen, seinen eigenen Weg zu gehen und sich seinen Rücken für die krumm zu machen, für die es sich lohnt. Outlaw. Das passt ganz gut in das damalige Gefühl. Stephan und die anderen Onkelz freunden sich immer enger mit Thomas Hess an, der wenige Jahre zuvor noch beinharter Präsident des Frankfurter Bones Chapter war. Die Bones waren schon damals verschrien und gefürchtet, noch lange bevor die sogenannten 1% Outlaw Motorcycle Clubs, ganz egal ob Hells Angels, Banditos, oder wie sie alle hießen, derart übertrieben emotional in der Presse behandelt werden. Weidner gefällt dieser Patch. Auf diesem Aufnäher steht in markiger Schrift „Ich würde lieber stehend sterben, als kniend leben wollen“, zudem reichen Stephans private Kontakte tief bis in das hessische Rocker-Milieu. Der Gedanke an Freiheit, den die Urväter dieser Clubs propagierten, der fasziniert Stephan. Im Grunde genommen, so denkt er, unterscheidet sich der Ruf vieler Rockerclubs nicht von dem, der Onkelz. „Lieber stehend sterben“ ist ein Lied über den bewusst und selbstbestimmten Weg, sich nicht anpassen zu wollen. „Doch ich bin anders – ich kämpfe für mein Recht. Ich bin lieber euer Onkelz – als euer Knecht…“ Das trifft Weidners innere Einstellung auf den Punkt, und es ist noch ein wichtiges, sich selbst Mut machendes Pamphlet gegen die, die die Onkelz einfach nicht raus lassen wollen, aus der stinkenden Ecke des ekelhaften Fascho-Rock.

Beide Alben verfehlen die Top Ten der deutschen Top 100 Longplay-Charts nur knapp, als sie sich im September des Jahres bis auf die Positionen 12 (Weiß) und 11 (Schwarz) vorarbeiten.Trotz der internen Schwierigkeiten innerhalb der Band, gehen die Böhsen Onkelz den eingeschlagenen Weg weiter. Diverse Fernsehinterviews machen die Einstellung der Band immer wieder deutlich, verändern aber nichts an der Einstellung der Öffentlichkeit gegenüber den Onkelz.

Tracklisting „Schwarz“:

  • Erkennen Sie die Melodie
  • Wenn wir einmal Engel sind
  • So geht`s Dir (Deine Hölle)
  • Der Himmel kann warten
  • Ich bin wie ich bin
  • Das Messer und die Wunde
  • 1000 Fragen
  • Ich bin Du
  • Worte der Freiheit
  • Das Rätsel des Lebens
  • Baja

Tracklisting „Weiß“:

  • Lieber stehend sterben
  • Entfache dieses Feuer
  • Das Wunder der Persönlichkeit
  • Fahrt zur Hölle
  • Alles F.a.M.
  • Willkommen
  • Für immer
  • Deutschland im Herbst
  • Es
  • Sie hat`nen Motor
  • Tribut to Stevie
  • Schöne neue Welt

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Böhse Onkelz - Schwarzes Album - Back

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